Wilde Kirche

Wilde Kirche


Blick von der Wilden Kirche


Infotafel Wilde Kirche


Wilde Kirche

Über die Höhen des Ohmgebirges flutete das helle Licht eines klaren Junimorgens. Einige Bussarde standen schon hoch im Blau des Himmels, Insekten schwärmten, und über die Muschelkalkfelsen rann das glasklare, erfrischende Wasser der Quellen. Ein ergrauter Holzhauer schritt dem Walde zu, auf dem Rücken seine Axt und eine Schaufel, seine ständigen Begleiter, wenn er zur Arbeit ging. Sein Weg führte ihn in den großen Wald, bis weit hinab in das Fischbachtal. Ein einfacher Kittel war seine Arbeitskleidung, in der Hand trug er einen derben Stock, den er selbst im Walde geschnitten hatte. Hin und wieder blieb er stehen, um Atem zu schöpfen und in die Stille zu lauschen.

 

An seiner Arbeitsstätte angelangt, zog er seinen Kittel aus und begann sein Tagewerk. Die Sonne stieg höher am Himmel. Von Zeit zu Zeit legte er eine Pause ein, um zu Atem zu kommen und den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er spürte mehr und mehr sein Alter und war manchmal unwillig darüber, dass er in der Arbeit mit den jungen nicht mehr Schritt halten konnte. Deshalb übernahm er mit Vorliebe solche Arbeit, die er allein bewältigen konnte.


Er hatte die Zeit im Gefühl. Wenn er jedoch genauer wissen wollte, welche Stunde der Tag zeigte, schaute er nach dem Stand der Sonne, so wie er es eben tat. Dann nahm er sein Tuch aus der Tasche, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging hinüber zu dem riesigen Eichenstamm, wo er seinen Kittel und den Beutel mit dem Frühstück abzulegen pflegte. Nun würde bald seine Frau mit der Mittagssuppe hier sein. Er brauchte nicht lange zu warten, schon sah er ihren bunten Rock durch die Stämme leuchten.


An der Hand trug die Alte zwei Henkeltöpfe. Er wusste schon: in dem einen war seine Suppe und der andere war leer. Aber den würde seine Frau, während er die Suppe löffelte, mit süßen Beeren füllen. Die würden dann sein Nachtisch sein. War er mit dem Essen fertig, ging seine Frau noch einmal los, und beide vollgepflückten Töpfe nahm sie dann mit nach Haus, wie sie es immer tat. Hatte sie Lust dazu, wartete sie, bis er sein Tagewerk beendet hatte, und dann gingen sie zusammen ins Dorf zurück. Hatte aber etwas ihren Unwillen erregt und hatte sie keine Lust zu warten, trat sie allein den Heimweg an. Inzwischen war die Frau herangekommen, gab dem Mann seine Suppe, nahm den zweiten Topf und ging in den Wald. Viele Worte brauchte es bei den beiden Alten nicht, sie wussten, was ein jeder meinte, und das Leben ging so seinen Gang. Bald war die Frau zurück. „Sind nicht mehr viele Beeren hier zu finden“, sagte sie, „du bist schon zu lange hier auf diesem Platz. Es müssen erst neue nachwachsen.“


Er nickte nur, beendete seine Mahlzeit und nahm sein Werkzeug auf. Bevor er zu seinem Stamm, den er bearbeitete, zurückging, schaute er noch einmal seine Frau an. Wollte sie warten, - wollte sie allein heimwärts gehen? „Ich gehe los“, gab sie Antwort auf seine stumme Frage, „will noch woanders nach Beeren suchen. - Wir sehen uns heute abend wieder.“ Er nickte und trottete davon.


Die Frau verschwand im Walde, und da sie mit raschem Schritt voranzukommen suchte, um neue Beerengründe zu finden, hörte sie schon bald die Axthiebe ihres Mannes nicht mehr. Eine halbe Stunde mochte sie wohl gegangen sein, bevor sie ihre Blicke suchend in die Bunde schickte. Und siehe da, dort schien eine gute Beerenstelle zu sein. Rot leuchteten die Erdbeeren, große saftige Früchte, durch das Grün der Blätter, die weithin den Boden bedeckten. Eifrig begann sie zu sammeln, pflückte die Früchte in ihre Henkeltöpfe und vergaß auch ihren Mund nicht bei der nahrhaften Beschäftigung. Eben wollte sie zufassen und hätte beinahe nach der roten Wegschnecke gegriffen, die auch an den Erdbeeren naschte. Gedankenversunken betrachtete sie die Schnecke bei ihrer Mahlzeit. Doch, was war das? Sie horchte auf, denn die silberhellen Töne einer Glocke klangen durch die Stille des mittäglichen Waldes. Was konnte das wohl sein, woher konnten diese Glockentöne kommen? Weit und breit gab es kein Gebäude, ganz zu schweigen von einem Glockenturm, der solche Töne durch die Waldesstille senden könnte.


Nun konnte sie ihre Neugier nicht mehr bezähmen und wollte wissen, welche Glocke hier wohl läuten könnte. Sie ließ ihre Erdbeertöpfe stehen und ging dem Klang des Geläutes nach. Am Abend kam der Holzhauer nach Hause und fand seine Frau nicht vor. Er suchte sie im ganzen Dorf, doch niemand hatte sie gesehen. Morgens zog man los, um sie zu suchen. Nach Stunden fand man ihre Töpfe, gefüllt mit Erdbeeren, aber von ihr selbst fehlte jede Spur. Schließlich gab man es auf. Man war noch abergläubisch in jener Zeit, was konnte nicht alles passieren, wem konnte die Frau nicht begegnet sein? Ja, die großen Wälder ... Die Frau aber hatte, als sie dem Klang der Glocke nachgehen wollte, zunächst mit ihren Händen das Strauchwerk auseinandergebogen und war vorangegangen. Dann war es ihr so, als böge sich das Gestrüpp ganz von selbst auseinander und öffne ihr so eine lange Gasse, welche sie ungehindert durchschreiten konnte. Dabei wurde der Klang der Glocke immer lauter, immer klarer - und plötzlich stand die Frau und vermochte sich nicht weiterzurühren. Ein überaus großer Dom, eine prächtige Kirche erhob sich vor ihren Blicken. Ein so schönes Gotteshaus hatte sie in ihrem Leben noch nie gesehen. Uralte Lindenbäume umstanden das Bauwerk, während aus dem Hintergrund feierlicher Orgelklang ertönte, so dass es sich anhörte, als kämen diese wunderbaren Klänge aus den hohen Felswänden, die nun überall zu erkennen waren. Die Frau stand und schaute und vermeinte zu träumen.


Da öffnete sich eine große, doppelte Flügeltür und gab den Blick frei in das Innere der Kirche. Ein unbeschreiblicher Glanz, ein überirdisches Leuchten gingen von dem Altar aus, der weit hinten im Chor der Kirche zu erkennen war. Unzählige Kerzen gaben dem Raum eine Helligkeit, dass die Frau die Augen geblendet niederschlagen musste. Am Altar schien ein Bischof, angetan mit den herrlichsten kirchlichen Gewändern, das heilige Messopfer darzubringen. Priester und Ministranten bewegten sich mit gemessenen Schritten am Altar. Die Frau trat näher, und wie von einer unwiderstehlichen Gewalt gezogen, stieg sie die Stufen der Steintreppe hinauf und trat ein. Ein wunderbares Gefühl erfüllte sie. Sie schien der Welt entrückt, so wie das vor ihr sich Vollziehende hatte sie sich nicht einmal den Himmel vorgestellt, den zu erreichen doch das Ziel ihres Lebens hier auf Erden war.


Als sie sich vom ersten Staunen etwas erholt hatte und sich umblickte, sah sie rechts und links des langen Ganges in kunstvoll geschnittenen Stühlen eine Menschenmenge, von Andacht tief ergriffen und den Blick zum Altar gerichtet. Aus ihrem Staunen wurde sie gerissen, als die Glocken der Ministranten anzeigten, dass nun der Gottessohn selber durch die Wandlungsworte des Bischofs auf den Altar herabkam; da fiel auch sie auf die Knie nieder. Sehr still war es in der Kirche geworden, nur der Duft des Weihrauches war wahrzunehmen, der süßlich den riesigen Raum erfüllte. Dann setzte das Orgelspiel wieder ein. In gewaltigen Tönen. Vorn am Altar hob der Bischof segnend die Hand und beendete damit die Feier des heiligen Opfers. Dann geschah etwas sehr Seltsames. Die Töne des Orgelspiels wurden langsam leiser und immer leiser. - Und dann war nichts mehr zu hören. Aber in dem Maße, wie das Orgelspiel verklang, verblasste auch das Bild der Kirche - die Menschen wurden unwirklicher, und übrig blieb von der ganzen Pracht nur ein eigentümlich geformter Mauerrest, das Stück eines Turmes - jene Ruine, welche die Nachwelt als „Wilde Kirche" kennt.


Als der Bischof die Hand erhoben hatte, wurde die Frau aus ihrer stillen Betrachtung geweckt. Plötzlich dachte sie an ihren Mann. Er sollte dieses wunderbare Schauspiel auch miterleben. Eilig lief sie zu ihm zurück. Vor Aufregung konnte sie kein Wort reden und bedeutete ihm nur, mitzukommen. Verständnislos starrte er seine Frau an. Wo war sie die Nacht gewesen? Die Frau lief den Weg, den sie gekommen war, zurück, lief hierhin und dorthin - die Kirche war verschwunden. Wer verübelt es dem Mann, wenn er in diesem Moment glaubte, seine Frau habe über Nacht den Verstand verloren?